Gerade ist es ruhig im Jugendtreff geworden und mein Kollege und ich sitzen gemeinsam mit einer Clique von Jungs im Alter von 13-15 Jahren in einer kleinen Runde auf der Terrasse des Jugendtreffs. Die Stimmung ist zunächst entspannt. Die Jungs beginnen ein Handyspiel zu spielen, das sie gerade sehr feiern. Doch die Ruhe hält nicht lange: Schon bald füllen gegenseitige Vorwürfe die Atmosphäre. Was mit ersten kleinen Scharmützeln beginnt, eskaliert rasch – bis hin zu wüsten Beschimpfungen. Diese Dynamiken beobachten wir in der Gruppe seit Längerem und greifen sie regelmäßig pädagogisch auf. Immer wieder geht es darum, eine Rangordnung auszuhandeln. Dabei wird jeder kleinste Fehler sofort ausgeschlachtet und zur Schwächung Einzelner genutzt.
Mein Kollege Daniel interveniert mit einer neuen Idee: „Passt auf, wir probieren jetzt was. Ich lade euch sogar auf ein Getränk ein, wenn ihr das schafft, und da bin ich mir sicher. Wir setzen uns jetzt wieder in Ruhe hin und jeder sagt mal jedem, was er an ihm eigentlich mag oder dieser gut kann.“ Grundsätzlich verzichten wir darauf, Jugendliche mit Goodies zu „belohnen“. In diesem Fall erschien es jedoch sinnvoll, einen zusätzlichen Anreiz zu setzen, damit sich die Gruppe auf diese Herausforderung einlassen kann. Nach kurzer Diskussion ist die Gruppe bereit, es auszuprobieren. Wir Jugendarbeiter machen zu Beginn auch mit, das hat es dann aber auch nicht lange gebraucht, damit die Intervention ins Rollen kommt. Es fällt der Gruppe anfangs sichtlich schwer, sich direkt anzuschauen und Komplimente untereinander auszutauschen. Sie geben sich aber alle Mühe und unterstützen sich sogar gegenseitig. An einigen Stellen droht es zu kippen, weil einige „kalte Füße bekommen“, dennoch hat es sie so sehr gecatcht, dass sie es sichtlich durchziehen wollen. Es fallen Sätze wie: „Ich weiß nicht, du bist echt lustig“ oder „Er ist ein guter großer Bruder und schaut auf mich“ und „Du bist ein richtig guter Ringer“. Nach gut zwanzig Minuten erleichtertes Aufatmen – sie haben es geschafft. „Was war das grad?“ – sagt einer. „Das war so anstrengend wie Schularbeit“ – ein anderer. Sie waren alle sichtlich geschafft und wir hatten den Eindruck, dass sie das Ganze für sich noch nicht ganz einordnen konnten und es ihnen untereinander auch etwas unangenehm war. Danach ließen sie sich gemeinsam vor der Playstation nieder und haben für den Rest des Nachmittags ruhig und wortkarg miteinander gespielt.
Mein Kollege und ich besprechen die Situation gemeinsam nach. Wir beide haben ein sehr positives Gefühl, dass die Intervention auch erfolgreich war. Unser Eindruck deckt sich auch darin, dass die Jugendlichen gerade eine völlig neue Erfahrung gemacht haben und spürbar beeindruckt waren von dem Gefühl, das sie erlebt haben. Wir fragen uns, ob es für den einen oder anderen vielleicht tatsächlich das erste Mal war, von einem Freund oder jemand aus dem eigenen Umfeld so offen und positiv Rückmeldung zu bekommen.
Das hat unter anderem auch mit den dominierenden Männlichkeitsvorstellungen in unserer Gesellschaft zu tun. Die Jungs wachsen mit der Erwartung auf, in allem der Beste sein und die Dinge im Griff haben zu müssen. Für das Teilen von eigenen Gedanken und Sorgen, das Zeigen von Gefühlen oder vermeintlicher Schwäche ist dabei kein Platz – sie werden häufig, etwa durch Freunde, Familienangehörige oder andere Erwachsene in ihrem sozialen Umfeld abgewertet.
Interventionen wie diese zählen für uns zum Kern der Arbeit mit männlichen Jugendlichen. Jungsarbeit erfordert eine ausgeprägte geschlechtssensible Haltung. Wir verstehen sie als Querschnittansatz: Je nach Bedarf und in Abstimmung mit den Gruppen schaffen wir zwar auch spezifische Angebote für homogene Settings – im Zentrum steht jedoch, alltägliche Situationen direkt aufzugreifen und pädagogisch zu nutzen. Voraussetzung dafür ist ein geeigneter Rahmen, in dem Dinge besprechbar gemacht werden können. Workshops halten wir hierfür nicht besonders geeignet. Sie fördern aufrichtige Gespräche nur bedingt und werden im Kontext der Jugendarbeit von den Jugendlichen häufig als unauthentisch und „verschult“ abgelehnt. Die Stärke der Jugendarbeit liegt generell für uns vor allem in der gewachsenen Beziehung und der kontinuierlichen Begleitung von Gruppen und einzelnen Jungs. Sie bilden die Basis für Interventionen – etwa um Jugendliche auch aus ihrer Komfortzone zu locken.
Indem wir die Beziehung in den Fokus stellen, wächst Vertrauen – und unsere Erfahrung zeigt: Erst dann können sensible Themen wirklich angesprochen werden. Auch das offene Zeigen von „Schwächen“ wird meist erst zu einem späteren Zeitpunkt möglich. Doch gerade dann nehmen Jungs Unterstützungsangebote zunehmend an. Das ist wichtig, weil viele der Jungs, mit denen wir in Kontakt stehen, mit schwierigen Lebenssituationen zu kämpfen haben.
Für das Arbeiten mit der konkreten Jungsgruppe war für uns zunächst wichtig zu verstehen, dass das Verhalten aller innerhalb der Gruppendynamik eine bestimmte Funktion erfüllt. Permanent auszuteilen und möglichst wenig selbst einzustecken ist dabei Voraussetzung, um in der Clique überhaupt akzeptiert zu werden. Unser Ziel ist es, die Gruppe nun schrittweise an alternative Handlungsweisen schrittweise heranzuführen – solche, die ebenfalls dazu beitragen, die eigene Position zu sichern und gleichzeitig Handlungssicherheit zu vermitteln. Um das zu erreichen, machen wir den Jungs weiterhin positive Anerkennungsangebote und versuchen sie zu stärken und zu ermutigen, darauf zu vertrauen, dass noch viele weitere Fähigkeiten in ihnen schlummern. Dieser Weg erfordert letztlich Geduld und realistische Erwartungen hinsichtlich dessen, was in kurzer Zeit überhaupt möglich ist. Im konkreten Fall krachte es beispielsweise bereits am nächsten Tag wieder heftig in der Gruppe.
Medial sind Vorfälle und Diskussionen rund um das Thema Männlichkeit gerade verstärkt Thema und wir begrüßen es auch sehr, dass die Arbeit mit männlichen Jugendlichen in der Offenen Jugendarbeit wieder mehr im Fokus steht. Überlassen wir Männlichkeitsfragen, die unsere Kids beschäftigen, nicht den Andrew Tates und den anderen A****löchern dieser Welt, die mit ihren gestrigen Antworten gerade großen Einfluss auf Heranwachsende nehmen!
Autor: Andreas Neidl für den Verein Bahnfrei
Bildreferenz: Jugendtreff Waggons
Programm: Adobe Firefly
Schlagworte: Schreiduell mit Megaphonen, 5 Jungs ca. 15 Jahre alt,
Sitzkreis, Rap, Bauchtasche, Sporttasche, Boxautomat, E-Scooter,
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